28.12.2019 | "Nicht ich, sondern Christus in mir" (Johannes Lohmann) | In „Verschiedene Themen“ | von Freddy Baum
Wahrhaft frei ist, wer frei ist von sich selbst, frei von dem, was ihm genommen werden kann. Was macht den Menschen unglücklich? Das Begehren nach dem, was er nicht erlangt, das Fortschreiten zu immer neuem Begehren, das Begehren nach dem, was Gott ihm nicht bestimmt hat, das "Für-Sich-Selbst-Begehren", das sich kreuzt mit dem "Für-Sich-Selbst- Begehren" der anderen.
O dieses Begehren! Das Wort Gottes sagt uns: "Du sollst nicht begehren!" (2. Mose 20, 17). Aber das Ich ist ein unersättlicher Götze. Es streckt seine Fasern hinaus in alle Weiten, sehnend, verlangend, begehrend! "Nach seinem Lenze sucht das Herz in einem fort, in einem fort" - und bleibt doch immer ungesättigt, ungestillt (Johannes 4, 13ff.; vgl. V. 34). Auch unglückliche Liebe ist nichts als Ichsucht; sie sucht Ergänzung ihres Wesens, Stillung nicht in Gott, sondern in der Kreatur; sie will im anderen sich genießen, nur trinken, trinken, sich geben, um doppelt zu empfangen. Das "Für-Sich-Begehren" kann nie gestillt werden.
Buddha sagte: "Dürstendes Begehren ist alles Leides Kern." Darin liegt ein Gramm Wahrheit neben einem Pfund Irrtum, und so fand er nicht den Weg zum wahren Frieden. Als er an verdorbenem Schweinefleisch starb, sagte er zu seinen Jüngern: "Seid euch selbst Leuchte und Zukunft" und überließ sie damit ihrem Schicksal und ihrem Ich.
Nicht jedes Begehren, sondern das Begehren nach dem, was nicht nach Gottes Willen ist (Matthäus 5, 6; 6, 33; Philipper 3, 8-21 u. a.), nicht jedes Begehren, sondern das "Für-Sich-Begehren" (2. Korinther 5, 13ff.; 11, 2; Jakobus 4, 5 u. a.) ist "alles Leidens Kern".
Christus zeigt uns das "Für-Gott-Begehren" und das "Für-andere-Begehren". Die Selbstsucht ist die persönliche Not, die Familiennot, die soziale Not, die Völkernot. Ergreifend kommt das zum Ausdruck in einem Wandgemälde des Malers Robert im Treppenhaus des Museums in Neuchâtel. Da steht ein Götzenbild, behängen mit Gold und Edelsteinen. Alles drängt zu diesem Bild, auf das die Augen mit heißem Begehren gerichtet sind. Jeder sucht selbst etwas an sich zu reißen - gleichviel, ob andere niedergetreten werden, vernichtet werden, Familienglück zerstört wird. Der Weg der Selbstsucht geht über Leichen und achtet ihrer kaum. Das ist das Kennzeichen von Handel und Wandel. Der Mensch ist egozentrisch, nicht theozentrisch orientiert; im Mittelpunkt unseres Handelns und Wandelns steht nicht Gott, sondern unser Ich.
Da kommt die Liebe und geht nach Golgatha, gibt sich zum Opfer, nur für Gott, nur für die anderen begehrend. Und aus den Wunden des Lammes wird heraus geboren ein neuer Leib mit vielen Gliedern, von denen es heißt: "Niemand suche, was sein ist, sondern was des andren ist!" (1. Korinther 10, 24; Philipper 2, 21), die den eigenen Vorteil drangeben, um nur keinem anderen Anstoß und Ärgernis zu geben. Wer sein Leben liebhat, der wird es verlieren, aber...
Und du? Und ich?
Der Thron, auf dem das eigene Ich sitzt, ist erfüllt von Ich-Liebe, von Eitelkeit.
Es tut so wohl, man hat es so gern, wenn das liebe Ich gepflegt, verhätschelt, verzärtelt wird; da ist man dann selbst so katzenweich und fromm, so sanft und demütig, der reine Sonnenstrahl, und schnurrt behaglich. Aber wie faucht man, wenn das Ich getreten wird! Sind nicht Liebe und Hass, Zuneigung und Abneigung meist davon abhängig, ob man unserem Ich wohl oder wehe tut? Ungebrochene Ichsucht und Ichherrschaft! Götzendienst! Weit davon entfernt, dass Gott Mittelpunkt und Gegenstand des Lebens, Sinnens und Wünschens ist! (Vgl. 2. Thessalonicher 2, 4.) Und du? Und ich?
"Es werden Menschen sein, die ihr eigenes Ich lieben" (2. Timotheus 3, 2 wörtlich). Sie wollen verzärtelt, geehrt, anerkannt, bewundert, geliebt - wenigstens bemitleidet werden! Und wenn es nicht geschieht, dann bewundert, bemitleidet man sich wenigstens selbst. Sie "märtyrern": "Ich habe es doch am schwersten!" oder: "Warum muss ich es so schwer haben - warum versagt Gott mir all mein Begehren?" bis hin zur Schwermut, zum Gemütsleiden, in dem einem die eigene Not so riesengroß und riesenschwer erscheint, dass sie alles vor den Augen verdunkelt und die Herrlichkeit des Herrn nicht mehr geschaut wird.
Diese Eigenliebe und Eitelkeit kann auch zur krankhaften Nervenüberreizung, zur Hysterie führen, die alles, was um sie her vorgeht, auf sich bezieht, zur Sucht, von sich reden zu machen, zur Leidenschaft, an sich leiblich oder doch seelisch immerfort und von allen herumdoktern zu lassen, sehr zugänglich für Schmeichelei, sehr empfindlich für Tadel. So kämpft man für das Ich, dass ihm nur nichts geschieht, statt es zur Strecke zu bringen am Kreuz.
Wir hatten längere Zeit ein hysterisches Mädchen, das sich u. a. absichtlich auch Verletzungen beibrachte, Selbstmordversuche heuchelte, nachts andere weckte, um bei ihnen zu beten und Sünden zu bekennen - alles nur, um eine Rolle zu spielen, um beachtet, bemitleidet, gepflegt, beseelsorgert zu werden, um ihrem Ich, ihrer Ich-Liebe Nahrung zu geben. Wie auch manche jedes Mal, wenn ein Mann in ihren Gesichtskreis kommt oder gar sie freundlich beachtet, denken, er wolle sie heiraten, und in Aufregung geraten. Ichknechte!
Das ist ein Leiden ohne Ende, weil man im Grunde leiden will, weil man nur noch auf diese Weise das Ich auf dem Thron halten kann. Weil man nicht durch irgendwelche Leistungen auffallen und andere von sich reden machen kann, will man wenigstens im Leiden auffallen. Und wenn auch das nicht glückt, so zieht man sich zurück in sein Unverstandensein, Einsamsein, Heimatlossein - das Ich findet außer sich keine Nahrung mehr.
Am abstoßendsten ist die Ich-Liebe, die sich selbst bewundert, die eigene Selbstlosigkeit; die gemachte Demut, die ihre Briefe unterschreibt: "Ihr geringer N. N.", in der der Mensch in Eitelkeit sich selbst anbetet, wie demütig, wie gefördert, wie tief er schon ist, die "Demut", die bewundert sein will oder im Verborgenen sich selbst bewundert und das Magdsgewand zur Schau trägt.
Kürzlich schrieb mir ein junger Christ: "Es ist fast gut, dass ich auch Dummheiten mache. Die Menschen machen es einem ein bisschen schwer, demütig zu bleiben - demütig nicht nur in der Theorie, nach außen hin, sondern im innersten Herzen. Viele Christen sind so demütig und bescheiden und selbstlos und - und - und doch so hochmütig! Oft merkt man's selbst nicht. Da ist es gut, wenn man einen Freund (oder Feind) hat, der einen kennt - wenn man sich ein feines Ohr und Gewissen schenken lässt. Ich bin überzeugt, dass der Satan selbst in gottgewirkte Liebe und noch mehr in gottgewirkte Demut einen Tropfen Selbstsucht hinein träufeln kann oder Hochmut und Selbstgefälligkeit."
Wie kann es einen "Aufbau", wirkliche Auferbauung geben? Nur, wenn es uns alle durchdringt: Keiner ist für sich da, sondern für die anderen! Ich bin ein Stein, dazu da, um andere Steine zu tragen. Keiner ist für sich da, sondern jeder für die anderen, für die Familie, für die Gottesgemeinschaft der Gemeinde. Und die Gemeinschaft oder Gemeinde ist nicht da für sich selbst, sondern für die Welt, zu leuchten, darzustellen das Wort des Lebens, vorzuleben, zu bezeugen, zu leiden, zu lieben, zu dienen, die Herrlichkeit Gottes zu offenbaren.
Und du? Und ich?
3a Das Ich-Leben als Tod des wahren Lebens (1)
3b Babel (2)
3c "Ich bin der Herr, mein Gott!" (3)
3d Das Ich als Selbstsucht und Selbstliebe (4)
3e Das Ich als Verzagtheit und Unglaube (5)
3f Das Ich auf dem Thron der Selbstgerechtigkeit (6)
3j Was bedeutet "Nicht ich"? (10)
3k Die Befreiung des Sklaven (11)