Durch das Ich sinkt der Mensch immer wieder in Sklaverei. Durch das "Nicht ich...", durch den innewohnenden Christus, wird er frei. Auf einem bestimmten Gebiet des Leibes- und Seelenlebens, auf dem geschlechtlichen Gebiet mag das gezeigt werden - nicht durch eine Abhandlung, sondern durch einen Briefwechsel. In dem Brief eines Gläubigen heißt es:
"...Ich strecke mich auch nach jenem Letzten aus, die Sache ganz zu überwinden, weil sie doch eine ziemliche Hemmung für meine seelische und besonders körperliche Tüchtigkeit bedeutet, indem sie Seele und Leib durch vorübergehende Ausbrüche erschüttert und kürzer oder länger nachzittern lässt. Aber dieses Triebleben ist nicht mehr das, was Gedanken und Sinne längere Zeit gefangen hält, sondern wird meist durch die Freude am Herrn, an Seinem Wort und an der Arbeit im Dienst und daheim zurückgehalten, überstrahlt. Ja mehr: die Triebkräfte werden zweifellos durch den Umgang mit Gott geheiligt und in andere Bahnen gelenkt, denn sonst würden sie hernach nur noch stärker hervorbrechen.
Aber es wird und muss wohl jeden Tag ein neuer Kampf bleiben. Es geht mir immer mehr auf, was das "tägliche Ersäuftwerden des alten Adam" bedeutet, diese "tägliche Reue und Buße, das tägliche Sterben und Auferstehen". Wie ist wohl die Bedeutung des Glaubens und des Gebetes in diesem Kampf zu bewerten? Alles Rufen und Beten um Befreiung von Sündenketten hilft erfahrungsgemäß nichts, sondern nur der Glaube. Andererseits ist der Glaube doch wieder nichts ohne das Gebet; ich betrachte das Gebet als naturnotwendigen Ausfluss des Glaubens; ist das richtig? Glaubenserfahrungen, ja schon die Einnahme der Glaubensstellung, drängen ins Gebet. Ein Beten ohne vorangehenden Glauben, ohne Vertrauen, ist aber doch wohl undenkbar."
Aus der Antwort:
"Einige Gründe, warum oft alles Rufen und Beten um Befreiung vergeblich ist:
1. Das Grundübel, die Wurzel aller Sünde, ist, dass der Mensch (vgl. den Sündenfall 1. Mose 3) sich Gott gegenüber selbständig machte und das Ich den Thron bestieg, der Gott allein gehört. An diesem Punkt muss also auch die Heilung einsetzen. Gott setzt diesem Ich gegenüber das eherne Grundgesetz: Gott widersteht dem Hochmütigen, aber dem Demütigen gibt Er Gnade. Solange das Ich nicht vom Thron gestürzt und Gott das Recht zum Thron eingeräumt ist (was in Christus Jesus auf Golgatha geschehen ist und grundsätzlich in einer wahren Bekehrung mit Vergebung der Sünden bejaht wird), ist darum das Beten um Befreiung vergeblich.
Würde Gott ohne diese Entthronung Befreiung geben, so würde das Ich sich nur noch mehr erheben in Selbstgefälligkeit, Überhebung über andere usw. und sich noch ungehinderter ausleben. Es würde also das Gegenteil von dem erreicht werden, was Gott will, und eine wahre Bekehrung und Erneuerung nur noch mehr erschwert und gehindert werden.
Gott gibt den Menschen gerade darum dahin in Sündenketten (Römer 1), damit der Mensch, der sich Gott dünkt, einmal auskostet, was er in sich selbst ist und kann. Übrigens wird Gott im Gebet vielfach nur als zusätzliche Hilfe gewünscht, während der Mensch in erster Linie mit sich selbst rechnet!
2. Warum suchen viele die Befreiung von Sündenketten? Nicht, weil es ihnen Not macht, dass die Sünde sie von Gott scheidet, dass Gott durch sie verunehrt wird (und sei es nur vor Engeln und Geistern). Sie leiden nicht darunter, dass die Sünde eine Auflehnung gegen Gott ist. Diese Menschen suchen Befreiung also nicht aus Gewissensnot, sondern entweder, weil sie unter den körperlichen, seelischen, geistigen Folgen der Sünde leiden (das klingt auch in Ihren Worten: "eine ziemliche Hemmung für meine seelische und besonders körperliche Tüchtigkeit", nach - obwohl sich dies ja auch auf eine Hemmung im Dienste Gottes beziehen kann), oder weil ihre Eitelkeit, ihr Selbstbewusstsein, ihr Ich dadurch beeinträchtigt wird. Auf solches Rufen antwortet Gott nicht, denn Er will das Ich nicht noch stützen.
3. Das Beten um Befreiung hilft nichts, wenn ich den Weg der Befreiung, der Erlösung nicht kenne (2. Timotheus 2, 5 "gesetzmäßig", das heißt nach den Regeln des Kampfes); das Beten befreit also nicht aus Blindheit und Unwissenheit. Diese Unwissenheit kann aus Faulheit im Forschen in der Bibel kommen oder aus falscher Belehrung. Es ist erschütternd, wie wenig uns - bis in unsere gläubigen Kreise hinein - der Weg der Erlösung wirklich enthüllt ist (wir lernen ihn meist nur unter tiefen Schmerzen des Falles), weil überall und immer noch das Gesetz gelehrt wird statt der vollbrachten Erlösung. Es klingt auch das sogar in Ihrem Brief noch nach, wenn es vielleicht auch bei Ihnen nur noch eine falsche, unbiblische Ausdrucksweise ist, die aber eben auch gefährlich ist und irreführen kann.
Sie schreiben: "Es geht mir immer mehr auf, was das tägliche Ersäuftwerden des alten Adam bedeutet, diese tägliche Reue und Buße, das tägliche Sterben und Auferstehen." Können Sie mir ein Bibelwort dafür anführen (nach dem Grundtext)? Das "tägliche Sterben und Auferstehen" ist eine Qual, ist Gesetz. Biblisch ist es, täglich (besser: ununterbrochen) die Stellung einzunehmen und zu bewahren: Ich bin mit Christus, in Christus gestorben und auferstanden (Römer 6, 7ff.; 2. Korinther 5, 14f.; Kolosser 3, 1ff. u. a.).
Da steht und ruht der Geist auf Erlösungsboden, auf einer vollbrachten Erlösung, auf einem schon gewonnenen Sieg, auf dem, was ein Anderer, was Jesus Christus, unser Gott und Erlöser, in lückenloser, restloser, vollkommener Weise vollbracht hat und ist. Da ist Ruhe und Sicherheit, da ist
Gemeinschaft mit dem ewigen Gott. Da ist Aussprache mit dem Vater, Erhörung des Gebets, Lösung und Freiheit.
4. Von hier aus - da auf diesem Boden Gottes Geist sich ergießt - erschließt sich uns die Erkenntnis Gottes und Jesu Christi; es erschließt sich uns immer neu die Fülle Seiner Herrlichkeit, immer neue, anbetungswürdige Tiefen und Höhen Seines Wesens. Je mehr das geschieht, fallen die Ketten (fast ohne dass wir es besonders gewahr werden), und wird das, was uns gefangen hielt, wie Sie richtig schreiben, überstrahlt von der Freude am Herrn.
Der Mensch findet aber oft darum im Gebet keine Befreiung, weil er - bis ins Gebet hinein - sich mit seiner Sünde beschäftigt statt mit Gott (und an seine Sünde mehr glaubt als an Gott); und der Teufel sucht die Gedanken der Menschen, die erweckt sind, auf die Sünde zu fixieren, damit sie sich ja nicht in Christus und Seine Fülle versenken!
Das unter 1 und 2 Gesagte ist - andeutungsweise - biblische Buße, das unter 3 und 4 Gesagte biblischer Glaube. Buße und Glaube sind die Grundbedingungen der Freiheit. Wir werden gerettet durch Glauben.
Ist nun das Gebet zwecklos? Zunächst - wenn es wirklich Gebet zu Gott ist - bringt es uns doch Gott näher, sodass Gott uns größer wird und wir selbst uns kleiner werden. Das Gebet macht uns auch den Abstand von Gott, die wahre Not der Seele, bewusster, größer, sodass wir uns nicht oberflächlich mit unseren Gebundenheiten abfinden können als etwas Unvermeidlichem, Unabänderlichem, sondern umso mehr dürsten nach Gott.
Jeder wirkliche Schrei nach Gott - und käme er aus dem tiefst gesunkenen Herzen - löst Wirkungen Gottes aus zu unserem Heil, wenn wir sie auch nicht gleich erkennen. Vor allem aber ist das Gebet in der Hauptsache kein Rufen zu Gott, sondern ein Anbeten Gottes, ein "Sich-Seiner-Selbst (seines Ich)-Entäußern" und ein "Sich-Versenken in Gott", in Seine Gnade, Sein Heil, Seine Fülle, Seine Herrlichkeit! Aber ohne Buße und Glaube, wie oben angedeutet, kann Beten nie zur Befreiung führen. Viele wollen lieber beten als Buße tun und glauben, weil sie im Grunde doch nicht wirklich los sein wollen von der Sünde und weil sie schließlich Gott noch die Schuld zuschieben möchten, der ihre Gebete um Befreiung nicht erhört.
Wo aber solche biblische Buße und solcher Glaube ist, ein Verlassen des eigenen Ich und Stehen in Gott und Gottes Tat, da können im Gebet Schlachtreihen von Dämonen durchbrochen werden (Daniel 10, 12ff.; Epheser 6, 12), Höllenpforten, die sich uns in den Weg stellen oder uns zu bezaubern und zu betrügen suchen, da können Engel des Lichts entlarvt werden, in die Satan sich verstellt. Beten wir in der ganzen Waffenrüstung Gottes, im Heiligen Geist und in der Wahrheit, in der Kraft der ganzen Erlösung des vollen Namens Jesu? Haben wir im Gebet unsere Stellung im Sieg Seiner Auferstehung als Mitauferstandene, Mitversetzte ins Himmlische?
Im Gebet in Jesu Namen, das heißt auf dem Boden der vollbrachten Erlösung, wenn der Geist (nicht die Seele) emporgehoben wird in die Gegenwart Gottes (Johannes 17, 1), atmen wir reine Gottesluft, da wird der Geist und durch den Geist Seele und Leib durchdrungen mit der reinen Atmosphäre, die am Thron Gottes ist, von Seinem Geist, von Gottes Heilskräften.
Aber Erlösung ist das Gebet nicht. Erlösung, Befreiung ist nur in dem ein für allemal vergossenen Blut des Lammes, ist nur in der Erlösungstat von Golgatha, ist nur, aber auch völlig in dem gegenwärtigen gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus für den, der ihm vertraut, dem Er Wirklichkeit und Leben und Alles ist (Hebräer 10). "Sie haben ihre Kleider gewaschen und hell gemacht in dem Blut des Lammes" - in nichts anderem! Darum, einzig darum sind sie als Sieger in weißen Kleidern mit Siegespalmen vor dem Thron Gottes (Offenbarung 7).
"Die dem Christus Jesus angehören, die kreuzigten (im Grundtext Vergangenheit in dem Sinn: ein für allemal) ihr Fleisch (entthronten ihr Ich) mitsamt den Lüsten und Begierden" (die nur im Ich ihre Herrschaft hatten) (Galater 5, 24). Das heißt nicht: sie besserten sich, sie fassten große Entschlüsse, sie brachen mit diesem und jenem, sie machten tatkräftige sittliche Anstrengungen, sondern: sie nahmen Stellung auf Golgatha, sie stehen mit Dem, dessen sie sind, in Seiner neuen Schöpfung (Galater 6,15; 2. Korinther 5, 17).
Die Erlösung von einer Gebundenheit kann nie herausgerissen werden aus dem Ganzen der Erlösung. Die verschiedenen Gebiete des Seelenlebens bilden gleichsam "kommunizierende (miteinander verbundene) Röhren"; der Wasserstand in der einen kann nicht sinken, ohne dass er in allen sinkt.
Es kann sein, dass, wenn einer vergeblich um Befreiung von einer Sünde ringt, der Haupthaken an einer ganz anderen Stelle sitzt - sei es etwas im ungebrochenen Herzen und Willen, in Menschengefälligkeit (Johannes 5, 44; 12, 43), kurz im Ichleben und dergleichen oder dass anderswo ein fauler Fleck ist, mit dem man nicht ans Licht will, eine ungelöste Schuld, die bekannt und in Ordnung gebracht werden muss. In den meisten Fällen aber wird es die oben erwähnte Unwissenheit und falsche Lehre sein.
Beten wir, dass der Geist Gottes uns die Augen öffne, und geben wir auf der ganzen Linie unseren Willen in Seinen Willen! Für ewig nichts wollen, als was Er will, und das wollen, was Er will! Wir nichts und Er alles in allem, wie fließt dann der Segen so rein! Wir wollen uns mit nichts begnügen als mit der wahren, vollen, ganzen Erlösung, entsprechend dem dafür vergossenen Blut des Lammes! Er - Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist - in uns und wir in Ihm und vollkommen eins mit Ihm. Ein völliges Ruhen in dem, was Er ist; ein Leben ganz aus Ihm; ein Leben ganz für Ihn; ein Schauen Seiner Herrlichkeit auch aus dem dunkelsten Tal und der ödesten Tiefe.
Kommen wir durch Glauben mehr und mehr in Lebensverbindung mit Christus Jesus, mit dem lebendigen Gott, so bekommt auch unser Beten immer mehr die Tiefen der Anbetung und des vertrauten Umgangs mit Gott.
Letztlich ist alles nur freie Gnade, nur ein Sich-offenbaren und Sich-mitteilen Gottes. Aber der Mensch muss sich öffnen, wenn Gott naht ("dein Glaube hat dir geholfen", "unser Glaube ist der Sieg"), und seinen Glaubensfuß fest auf den geschenkten Boden setzen.
Und nun lasst uns die Anwendung hiervon machen auf das Gebiet, in dem unser Kampf gerade liegt!
3a Das Ich-Leben als Tod des wahren Lebens (1)
3b Babel (2)
3c "Ich bin der Herr, mein Gott!" (3)
3d Das Ich als Selbstsucht und Selbstliebe (4)
3e Das Ich als Verzagtheit und Unglaube (5)
3f Das Ich auf dem Thron der Selbstgerechtigkeit (6)
3j Was bedeutet "Nicht ich"? (10)
3k Die Befreiung des Sklaven (11)